Wenn der Kalender umspringt, liegt etwas in der Luft. Ein Moment, der sich nach Neuanfang anfühlt. Nach Aufräumen. Nach „Jetzt aber wirklich“.
Neujahrsvorsätze gehören fast selbstverständlich dazu. Mehr Sport. Weniger Stress. Gesünder essen. Endlich Nein sagen. Oder auch: abnehmen.
Und doch wissen die meisten von uns – oft schon beim Formulieren der Vorsätze –, dass sie vermutlich nicht lange halten werden. Statistiken sprechen von wenigen Wochen, manchmal sogar nur Tagen.[1] Irgendwann kehrt der Alltag zurück, und mit ihm die alten Muster.
Die Frage ist also nicht nur, warum Neujahrsvorsätze so oft scheitern. Sondern auch, was eigentlich dahintersteckt – und unter welchen Bedingungen Veränderung wirklich gelingen kann.
Aus unserer Perspektive als humanistische Therapeuten betrachtet, erzählen Neujahrsvorsätze eine sehr viel tiefere Geschichte, als es auf den ersten Blick scheint. Der innere Richter: Neujahrsvorsätze als gut gemeinter Selbstappell
Viele Vorsätze entstehen aus einem inneren Druck heraus. Aus dem Gefühl: „So, wie es gerade ist, sollte es nicht bleiben.“ Dieser Impuls ist verständlich. Er zeigt, dass Menschen spüren, dass etwas nicht stimmig ist – dass Bedürfnisse übergangen wurden oder ein Ungleichgewicht entstanden ist.
Problematisch wird es dort, wo Vorsätze zu einem Mittel werden, sich selbst zu korrigieren. Wo sie weniger aus Kontakt mit dem eigenen Erleben entstehen als aus inneren Bewertungen oder Normen unserer Gesellschaft: „Ich bin zu träge. Ich diszipliniere mich nicht genug. Ich müsste anders sein.“
Warum Vorsätze trotz guter Absichten nicht tragen
Viele Menschen erleben dabei ein wiederkehrendes Paradox: Sie wissen sehr genau, was ihnen guttun würde – und handeln trotzdem anders. Das ist kein persönliches Versagen. Es beschreibt vielmehr, wie menschliches Erleben unter Belastung funktioniert.
Unser Organismus ist auf unmittelbare Entlastung ausgerichtet. Ablenkung, Essen, Rückzug oder Aufschieben wirken oft regulierend. Sie helfen, Anspannung oder Überforderung kurzfristig zu dämpfen. Aus der eigenen Komfortzone herauszukommen und Gewohnheiten zu brechen, wird damit zur echten Herausforderung.
Hinzu kommt, dass Selbstkontrolle keine unendliche Ressource ist. Ein Alltag voller Anforderungen, Entscheidungen und emotionaler Beanspruchung hinterlässt Spuren. Wenn Menschen dann abends nicht mehr „durchhalten“, sagt das oft weniger über ihre Disziplin aus als über ihren Erschöpfungsgrad.
Der Mensch ist kein Projekt
Veränderung kann mit eisernem Willen entstehen – oft auf Kosten eines entspannteren Lebens. Durch Selbstoptimierung, Disziplin und das konsequente „Sich-Zusammenreißen“ lassen sich durchaus Verhaltensänderungen erzwingen. Die Frage ist jedoch, wie tragfähig solche Veränderungen sind und welche anderen Bedürfnisse dafür in den Hintergrund treten müssen.
Wir gehen davon aus, dass tiefere und nachhaltigere Veränderung dort entsteht, wo Menschen wahrnehmen, was in ihnen tatsächlich vorgeht. Wenn jemand früher merkt, wann etwas zu viel wird, wann ein Bedürfnis auftaucht oder wann er sich selbst verliert, verschiebt sich Verhalten oft ganz ohne bewussten Vorsatz.
Nicht, weil man sich vornimmt, anders zu sein, sondern weil sich der innere Kontakt verändert hat.
Wir hören schon den Aufschrei: „Aber das ist doch ein Aufruf zu Disziplinlosigkeit und Inkonsequenz!“
Nein. Ist es nicht.
Und die Frage, wie viel Konsequenz es braucht, kann danach jeder von uns für sich selbst beantworten – im besten Fall, ohne dabei die oft schon früh erlernten (und dadurch zur geglaubten "Wahrheit" werdenden) Glaubenssätze, Werte oder Normen anderer Menschen weiterzuleben. Ein bisschen anders reicht oft schon
Im Alltag zeigt sich oft, dass Veränderung an der Art scheitert, wie sie gedacht wird. Die Vorsätze sind häufig zu groß – der „innere Antreiber“ lässt grüßen. „Mehr Sport“ oder „gesünder leben“ klingen gut, helfen aber wenig an einem ganz normalen Dienstagabend.
Der 1. Januar fühlt sich zwar nach Neubeginn an, doch der Alltag bleibt derselbe: Stress, Termine, alte Gewohnheiten. Viele Vorsätze setzen außerdem auf Motivation – und die ist launisch. Sobald es unbequem wird oder zu viel auf einmal gewollt ist, bricht das Vorhaben meist weg.
Tragfähiger wird Veränderung dort, wo sie klein und alltagstauglich gedacht ist. Ein kurzer Spaziergang nach der Arbeit ist oft wirksamer als ein perfekter Trainingsplan. Und wenn neue Schritte an bestehende Routinen gekoppelt sind, braucht es weniger Überwindung. Für den Anfang reicht oft genau das – und vielleicht darf daraus später mehr werden.
Selbstakzeptanz - und kleine Schritte
Ein Gedanke verbindet all diese Überlegungen: Selbstakzeptanz bedeutet nicht Stillstand. Sondern einen inneren Boden, auf dem Bewegung möglich wird.
Aus diesem Boden heraus entstehen oft keine großen Vorsätze, sondern kleine, stimmige Schritte – eine Pause früher, ein Nein zur rechten Zeit, ein Moment ehrlicher Selbstwahrnehmung.
Vielleicht brauchen wir also gar keine Neujahrsvorsätze. Sondern einen anderen Umgang mit uns selbst.
Herzlich
Niritya und Tom
Quelle:
Die Autoren dieses Artikels:
Thomas Wilhelm und Niritya Speicher-Wilhelm, beide Heilpraktiker für Psychotherapie in eigener Praxis in Saarbrücken und Mitglied im
Verband freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und
psychologischer Berater e.V.
Qualifikationen: Beide haben eine insgesamt vierjährige Ausbildung in
Gesprächstherapie nach Carl Rogers, Gestalttherapie nach Fritz Perls
und Transpersonaler Gestalttherapie bei Dr.rer.soc. Rajan
Roth und Dipl.Ing. Deva Prem Kreidler-Roth (Köln und Stuttgart)
absolviert.
Thomas hat zudem eine Ausbildung in tiefenpsychologischer Hypnose, Niritya ist auch Reiki- und Meditationslehrerin.
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